Berlin 2013

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Luigi Cherubini: Vom Autograph zur Aufführung.
Internationales Symposium vom 10. bis 12. Oktober 2013 in Berlin

Michael Pauser

Nach den ersten internationalen Symposien zu Luigi Cherubini 2010 in Weimar und Florenz folgte vom 10. bis 12. Oktober in Berlin die dritte intensive Beschäftigung mit Leben und Werk des Kompo­nisten unter dem Titel „Luigi Cherubini – Vom Autograph zur Aufführung“. Gastgeber des Sympo­sions war die Universität der Künste Berlin (Christine Siegert) in Kooperation mit der Internationa­len Cherubini­Gesellschaft e. V. (Helen Geyer). Begrüßt wurden die Referenten und Tagungsgäste durch den Dekan der Fakultät Musik an der UdK Reinhard Schäfertöns sowie durch die Gastgebe­rinnen Christine Siegert und Helen Geyer. Letztere verband mit dem erneuten Zusammentreffen den Wunsch, eine Art von „Wiederentdeckung“ Cherubinis  weiter voran zu treiben, um ihm den Rang zuzugestehen, der ihm gebühre. Dem Umstand, dass die Tagung an einem Ort stattfand, wo den Cherubini­Forschern reichhaltiges Quellenmaterial zur Verfügung steht, trug Martina Rebmann mit ihrem Vortrag Rechnung: „Je ne regretterai point mon travail‘ – ‚Ich werde meine Arbeit nicht bereuen‘. Die Cherubini­Sammlung in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz“. Eindrucks­voll legte sie dar, wie langwierig und schwierig die Verhandlungen der Königlichen Bibliothek einst waren, um schließlich im Jahr 1878 den autographen Nachlass Luigi Cherubinis ihr Eigen nennen zu dürfen, dessen Würdigung laut Philipp Spitta die „Aufgabe des deutschen Volkes“ sei.

Fabio Morabito warf in seinem Vortrag „A Sanctuary of Friends: Cherubini’s Collection of Musi­cal Autographs by Other Composers“ die Frage auf, was Cherubini dazu bewogen haben könnte, Autographen anderer Komponisten zu sammeln und einzelne Seiten durch exakte Kopien zu ersetzen. Fast scheint es, als ob sich Cherubini auf diese fast obsessiv anmutende Weise eng mit den Vorbildern zu verbinden suchte.

Elisabeth Kühne zeigte in ihrem Referat „Krakau – Berlin – Paris: Zur Quellenlage von Cherubi­nis Eliza ou le voyage aux glaciers du Mont St. Bernard“ die zahlreichen Probleme auf, denen sie sich und andere Editoren der neuen kritischen Gesamtausgabe der Werke Luigi Cherubinis gegenüber sehen. Nicht nur die Unterschiede zwischen Autograph und Erstdruck wurden diskutiert, sondern auch die Problematik, wie man mit jenen jeweils differierenden Aufführungsumständen pragmatisch umzuge­hen hat, gerade angesichts der editorischen Entscheidungen.

Überlegungen dieser Art bestimmten auch Giada Vivianis Erörterungen zur höchst komplexen Quellenlage und zum Stoff der einst überaus populären Oper Faniska „Le fonti manoscritte della Faniska di Luigi Cherubini a Berlino e in Germania: Questioni di filologia e di ricezione dell’opera“.  Die deutsche Rezeptionsgeschichte der Oper konnte mit Berlin, Dresden, Hamburg und Weimar nur exemplarisch verdeutlicht werden, stehen ihr doch auch Quellen in Frankreich, Italien, den USA oder Kanada gegenüber. Dieser Umstand führte schließlich dazu, dass die Diskussion zu diesem Bei­trag einmal mehr das große Fragenspektrum aufwarf, das sich zum Œuvre Cherubinis immer wieder einstellt.

In seinem Beitrag „Das Capriccio ou Étude pour Le Piano­forte – Cherubinis Auseinandersetzung mit der Bach­Tradition?“ mahnte Arnfried Edler an, die jeweiligen Instrumente in Betracht zu ziehen, die Cherubini zur Verfügung gestanden haben und für die er komponiert habe. Er erörterte das Pro­blem,  wie man dieses 984 Takte umfassende und ca. 40 Minuten dauernde Werk einzuordnen habe. Einerseits vollzog sich im Zeitraum seiner Entstehung der Wandel vom Cembalo hin zum Hammer­klavier, andererseits seien Cherubinis Lehrer „Verfechter des stile antico“ gewesen. Gerade die Rezep­tion der Clavier­Werke Johann Sebastian Bachs in Paris und das gegenseitige zur­Kenntnis­Nehmen von Cherubini und Clementi müssten laut Edler dahingehend weiter untersucht werden.

Ebenfalls auf Lücken in der Rezeptionsgeschichte machte Hartmut Grimm in seinem Vortrag „‚…eine große Anzahl feiner und piquanter Züge‘ – Zu den Streichquartetten Luigi Cherubinis“ auf­merksam. Trotz z. T. überschwänglicher Kritiken liegen die genauen Umstände der Entstehung der Streichquartette teilweise noch im Dunkeln. Grimm wies darauf hin, dass aber gerade Cherubini als eine Art Scharnier zwischen Joseph Haydn und Felix Mendelssohn Bartholdy fungieren könnte, was im 19. Jahrhundert bereits Eduard Hanslick angedeutet hatte.

Christian Märkl fokussierte in seinem Referat „Werkfassungen der Messkompositionen Cheru­binis und der État de la Bibliothèque de la Musique du roi“ Cherubinis Kirchenmusik. Mit dem État steht der Wissenschaft eine Quelle zur Verfügung, in der neben einer chronologischen Auflistung der erklungenen Werke auch deren Abfolge im Gottesdienst festgehalten worden ist. Angesichts der Unterschiede in den Handschriften und Drucken des genannten Repertoires im zeitlich­politischen Kontext ist es nicht auszuschließen, dass beispielsweise die differenzierteren und anspruchsvolleren Bläserpartien möglicherweise eine politische Implikation darstellen könnten.

Luciane Beduschi zeigte mit ihrem Vortrag „Padre Martini’s Closed and Enigmatic Canons with Solutions by Luigi Cherubini“ auf, wie geistreich Cherubini auf diese Rätselkanons reagierte und sogar selbstbewusst „Verbesserungen“ an den Vorlagen vornahm, wo er es für nötig hielt. Auf Grund­lage dieser Kanons wird es nötig sein, über den Kontrapunktiker Cherubini neu zu reflektieren.

Einen weiteren thematischen Gesichtspunkt eröffnete Andrea Chegai mit seinem Referat „In memoria del Metastasio? Un soggetto toscano al crepuscolo del dramma per musica (Mesenzio re d’Etruria, Firenze 1782)“. Das Opernwerk stand folglich abermals im Zentrum, allerdings unter auf­führungspraktischen Gesichtspunkten, die auch Cherubini selbst berücksichtigt habe, wie aus den Manuskripten ablesbar sei. Er legte dar, wie der Komponist einzelne Sänger, die er bspw. aus gemein­samen Projekten mit Giuseppe Sarti kannte, auch für die Aufführungen seiner Opern zu engagieren versuchte.

Bella Brover­Lubovsky spürte in ihrem Vortrag „Dramatic Reform in Parma and Cherubini’s Early Career in Paris“ einer ganz ähnlichen Frage nach, verband dies aber zugleich mit der Untersuchung, ob Demophon sowohl in Paris als auch in Parma für die damaligen Erwartungen adäquat konzipiert war. Ihr Blick richtete sich daher auf die Opernreform in Parma, auf Gluck und Calzabigi in Wien sowie auf das Geschehen in St. Petersburg.

Auf landestypische Unterschiede kam es auch Damien Colas in seinem Referat „Quelques remarques à propos de la dramaturgie musicale de Lodoïska“ an, gerade in der Abgrenzung von Polen und Paris. Er führte Untersuchungen zum literarischen Rezeptionshintergrund der Lodoïska aus, der in der Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt und sich bis zum Rosenkavalier erstreckt, wodurch sich eine ganz neue Lesart dieser Oper eröffnet.

Dörte Schmidt lenkte in ihrem Vortrag „Pygmalion spricht Italienisch in Paris. Zu Luigi Cherubinis Opern­Version der Rousseauschen Scène Lyrique“ den Blick zurück auf Paris. „Altmodisch“, „kurios“ oder gar „Medienbastard“ sind Worte, die Cherubinis Pimmalione einst charakterisierten. Doch Schmidt legte dar, wie sich hier ein Paradigmenwechsel im Belcanto vollzog.

Helen Geyer beleuchtete in ihrem Referat „Aspekte der Rezeption Luigi Cherubinis: Fokus Mit­teldeutschland“ nicht die großen Städte, sondern v. a. die kleine Residenzstadt Weimar. Durch das gut erhaltene umfangreiche Aufführungsmaterial des Hoftheaters, das darüber hinaus mit unzähligen differenzierten Regieanweisungen versehen ist, kann man nicht nur eine durch die räumliche Nähe zu Gotha bedingte Weimarer Vorliebe für das Melodram ablesen, sondern man bekommt auch eine ganz deutliche ästhetische Orientierung an Wien präsentiert – ein Umstand, den die Referentin immer wieder beobachten konnte, womit offensichtlich auch eine Distanz zu Dresden intendiert war.

Nach den Betrachtungen einiger Aufführungsumstände im 19. Jahrhundert widmete sich Arnold Jacobshagen in seinem Vortrag „Transkulturalität und Regietheater. Cherubinis Médée in der Inszenie­rung von Krzysztof Warlikowski“ einer Inszenierung der heutigen Zeit. Er synthetisierte verschiedene Ebenen wie Transkulturalität oder Theatersemiotik mit dem Begriff Regietheater und legte dar, wie Médée gerade durch die oft veränderten, weil nicht als sakrosankt empfundenen Dialoge an Aktualität gewinnen kann. In Warlikowskis Inszenierung geschieht solches maßgeblich durch die verschiedenen Deutungsebenen, die allein durch die Titelfigur Médée im Raum stehen: Man sieht Amy Winehouse, man hört Médée und man denkt als vorbelasteter Hörer dieser Oper natürlich an Maria Callas.

Die letzte Sektion des Symposions über Fragen der weiteren Cherubini­Rezeption eröffnete Maria Stolarzewicz mit ihrem Referat „Anmerkungen zur polnischen Rezeption der Opern von Luigi Che­rubini in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, wo sie der Rezeption Cherubinis auf dem Gebiet des heutigen Polen nachspürte. Die Zeitgenossen betrachteten die Musik der Lodoïska oder der Les deux journées einerseits „als die beste, die jemals geschrieben wurde“ – auch wenn sie für viele zu schwer gewesen sei –, lasteten jedoch andererseits den Libretti erhebliche Mängel und fehlende Kontinuität an.

In ihrem Vortrag „Cherubini­Rezeption in Berlin“ rückte Christine Siegert erneut die Oper Médée in den Vordergrund und fragte sich, ob ihr mäßiger Erfolg auf deutschen Bühnen vor allem mit den Übersetzungen in Zusammenhang stehen könnte. Zudem sei „ein weinender Herzog das genaue Gegenteil von Paris“ gewesen.

Erich Tremmel führte die Anwesenden in seinem Referat „Instrumentale Cherubini­Bearbeitun­gen als Ausdruck der Cherubini­Rezeption“ aus der preußischen Hauptstadt in die bayrische Provinz. Neben den Bearbeitungen für den privaten Raum interessierte er sich für die oft weit von einem Thea­ter entfernten Militärkapellen insbesondere in Regensburg, Landau, Neuburg und Bamberg. Obgleich er nur „Zufallsfunde“ zeigen konnte, weil das Material allein in Bayern unüberschaubar groß ist, lassen solche Tatsachen, wie das Vorhandensein von 88 Opern gegenüber zwölf Militärmärschen im Regi­ment Regensburg, die berechtigte Frage aufwerfen, ob gar einst Cherubinis Opern auf dem Münche­ner Oktoberfest erklungen sind?

Mit einem philosophischen Blick auf die Person Luigi Cherubinis schloss sich der Kreis der Vor­träge durch Michael Fends Beitrag „Cherubinis Institutionalisierung“, der aufzeigte, wie konträr der Komponist letztlich zum Zeitgeist des 19. Jahrhunderts stand. In einer Zeit, in der Komponisten mehr und mehr individuell arbeiten wollten, verstand sich Cherubini möglicherweise als „unterwürfiger Arbeiter der institutionellen Doktrin des Conservatoires“, deren Konzept er selbst mit erarbeitet hatte.

Jeder der Vorträge regte eine teils lange und lebendige Diskussion auf erfrischende Art und Weise an. Das hohe Maß an neuen Erkenntnissen über Leben und Werk Luigi Cherubinis, das neue Nach­denken über gefestigte – um nicht zu sagen starre – Vorstellungen der vergangenen beiden Jahrhun­derte sowie die Aktualität heutiger Aufführungen, die maßgeblich durch die entstehende neue kritische Werkausgabe gestützt wird, beflügelte die Hoffnung auf eine weiterführende Beschäftigung durch Wissenschaft und Praxis, um  Cherubini im Gedächtnis des 21. Jahrhunderts letztendlich den ihm angemessenen Rang zuzugestehen.