Weimar 2010

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Luigi Cherubini: Vielzitiert – bewundert – unbekannt

Internationales Symposium vom 25. bis 27. November 2010 in Weimar

Iris Winkler

Das internationale Symposion, das sich in der Hochschule Franz Liszt in Weimar vom 25. bis 27. November 2010 Luigi Cherubini widmete, zeigte exemplarisch, wie man sich einer – heute – unbekannten „Größe“ eines Komponisten und seiner Schaffensvielfalt neugierig nähern sollte. Thematisiert wurden von den einzelnen Referentinnen und Referenten, den Kennern Cherubini’scher Werke, musikalische, musikhistorische, biographische, stilkritische, epochenspezifische, dramaturgische, aufführungspraktische und editorische Aspekte. Es war nicht nur eine Lust, den einzelnen Vorträgen zu lauschen, forderten sie doch unmissverständlich ein, wie wichtig es ist, den Florentiner Cherubini, der unter anderem den Kanon des Pariser Conservatoire bestimmte, in seinem Wirken, seinem Umfeld, seiner Rezeption genauer kennen zu lernen und so durchaus die eine oder andere Frage im Gebiet der historischen Musikwissenschaft erneut zu überdenken, vielleicht gar neu zu stellen.

Der Initiatorin und Leiterin des Kongresses, Prof. Dr. Helen Geyer, gelang es Prof. Dr. Norbert Miller von der Technischen Universität Berlin für den Festvortrag zu gewinnen. Der vielfach ausgezeichnete Literatur- wie Kulturwissenschaftler der europäischen Romantik, ließ den Schmelztiegel Wien plastisch werden, führte Cherubini von Joseph Haydn zu Ludwig van Beethoven, erhellte Inhalt und Aufführungsgeschichte der Oper Faniska im geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang.

Nach der Begrüßung und Eröffnung der Tagung durch den Präsidenten der Hochschule für Musik Franz Liszt, Prof. Dr. Christoph Stölzl, vertreten durch den Vizepräsidenten, Herrn Prof. Dr. Helmut Well, dem Direktor des Instituts für Musikwissenschaft Weimar-Jena, Prof. Dr. Detlef Altenburg, und der Studiendekanin, Prof. Dr. Helen Geyer, ging es schon mit der „Idee des Erhabenen“ medias in res. Prof. Dr. Albrecht von Massow lenkte den Blick auf die Bedeutung und Wirkung des „Erhabenen“ anhand aussagekräftiger Darstellungen von Naturkatastrophen, wie etwa die Sturmflut von 1717. Naturkatastrophen versuchte man in Malerei und Musik mimetisch wiederzugegeben, aber auch in anderer Weise zu verarbeiten oder auch eine zu naturalistisch drastische Darstellung im Kunstwerk – etwa als Teichoskopie – gänzlich auszusparen.

Diese komplexe Thematik, die Fragen zur Ästhetik im späten 18. und 19. Jahrhundert aufwarf, führte unweigerlich zu Cherubinis Opernwerk Medée. Heiko Cullmann, Chefdramaturg am Stadttheater Klagenfurt, der Medée neu ediert, Cherubinis komische Oper Koukourgi am 18. September 2010 erstmals wieder auf die Bühne brachte und eine Ausgabe von Les deux journées vorbereitet, beleuchtete Medée/Medea vor dem Hintergrund der Operngeschichte als „eine europäische Operngeschichte“.

Die „Idee des Erhabenen“ wurde außerdem bei Idalide oder Ifigenia berührt und bei Fragestellungen zur Antikenrezeption. Markus Oppeneiger M. A. vom Deutschen Nationaltheater und der Staatskapelle Weimar thematisierte die Idalide-Thematik bei Cherubini. Dr. Karl Traugott Goldbach von der Louis Spohr Gesellschaft in Kassel stellte Ifigenia – zwischen literarischer Tradition und Experiment vor. Goldbach erläuterte das Konzept des Librettisten Ferdinando Moretti, der mit der „Szene vor der Stadt“ und der Notwendigkeit von tragischen Schlüssen wesentliche Neuerungen im Bereich der Librettistik verfocht. Einen Abstecher unternahm der Referent abschließend zum benediktinischen Schultheater in Augsburg, das der Iphigenien-Thematik in diesem Rahmen die Brisanz, die auf der Opernbühne Modernität zeugte, in der verengten, reduzierten Deutung als Gehorsamkeitsgebot zu nehmen versuchte.

Nicht nur Idalide und Ifigenia verweisen auf die Antikenrezeption in den Opernwerken Cherubinis. Prof. Dr. Bella Brover-Lubowski von der Hebrew-University in Jerusalem stellte das Wirken und die Bedeutung von Giuseppe Sarti für seinen Schüler Cherubini in den Vordergrund. Im Zusammenhang Sarti–Cherubini eruierte sie die Antikenrezeption im Bereich der Musik in Italien. Dott. Gianluca Ferrari von der Università di Salento in Lecce recherchierte über Thematik, Entstehungsgeschichte wie auch über den Libretto-Text von Mendouze zur Ballettoper L’Anacréon. Ferraris präzise Ausführungen bewiesen, wie problematisch, trotz vorhandener Quellen, ein Rekonstruktionsversuch sein kann, da dieser als Resultat von mehrfachen Korrekturen nur noch mehr Fragen in philologischer wie ästhetischer Hinsicht aufwirft. PD Dr. Erich Tremmel stellte Les Abencérages vor, warf Fragen zur Entstehungs-, Datierungsgeschichte der Oper auf wie zu stilistischen Aspekten. Prof. Svend Bach von der Universität Århus (Dänemark) interpretierte aus literarischer Sicht das Démophon-Libretto als Übergang zum französischen Opernschaffen Cherubinis. Dabei eröffnete er Methoden der Literaturwissenschaft, die eine neue Perspektive für musikwissenschaftliche Untersuchungen zu gewährleisten vermögen. Zugleich wurde die sukzessive ästhetische Umakzentuierung im Zuge der Diskussion der Aufklärung evident. Neben der Antikenrezeption findet sich auch die Verwendung nationaler Sujets im Opernwerk Cherubinis: Dr. Giada Vivani von der Fondazione Giorgio Cini in Venedig hinterfrug Cherubinis Opern Lodoïska und Faniska bezüglich der Geschichte der „belle polonaise“. Es gelang ihr, einen weiten Bogen zu spannen vom Nationalkolorit über Couleur locale bis zum Historismus.

Nicht zu vergessen ist bei der Lodoïska-Thematik insbesondere der hochaktuelle Zeitbezug: Die Verfassung von Polen-Litauen vom 3. Mai 1791, die im Warschauer Königsschloss von Sejm verabschiedet wurde, ist nach jener der Vereinigten Staaten als wohl wichtigste des späten 18. Jahrhunderts zu werten. Historisch gilt sie als die erste moderne Verfassung Europas. Frappierend ist die zeitliche Nähe von Cherubinis Lodoïska, erstmals am 18. Juli 1791 im Théâtre de la rue Feydeau in Paris aufgeführt. In diesem Umkreis sind noch die Lodoïska-Versionen von Giovanni Simone Mayr (ab 1796) anzusiedeln.

Auf ein spannendes Detail ließ sich Prof. Dr. Christine Siegert von der Universität der Künste in Berlin ein mit der Entstehungsgeschichte der Einlagearie „O toi, victime de l’honneur“. Siegert stellte mit kriminalistischer Feinarbeit dar, dass die untersuchte Arie, ein Teilautograph, wohl um 1830 Les deux journées bereicherte, aber ursprünglich aus Les Abencérages stammte („O toi, l’idole de mon cœur“). Prof. Dr. Arnold Jacobshagen von der Hochschule für Musik und Tanz Köln referierte über den „Chor in Cherubinis französischen Opern“, wobei er die reichhaltige Palette des französischen Opernchorwesens in Frankreich zur Zeit Cherubinis am Beispiel seiner Opern ausbreitete: Chöre existierten hinter und unter der Szene, Doppelchöre und Tripelchöre waren beileibe keine Ausnahme und beherrschten das dramaturgische Konzept. Die Stimmfachbesetzung der zeitgenössischen französischen Chöre – mit Bass, hohem Tenor und nur einer Frauenstimme erweist sich nicht zuletzt als gewaltiger Hemmschuh für Aufführungen heute.

Die Rezeption der französischen Opern Cherubinis in der deutschsprachigen zeitgenössischen Presse – insbesondere der Niederrheinischen Musikzeitung und der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung stellte PD Dr. Axel Schröter von der Hochschule für Musik Franz Liszt anschaulich dar. Die „verbalen Rezeptionskonstanten“ bildeten im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum so ein mehr oder weniger konstantes Cherubini-Verständnis aus, dessen Folgen sich nicht zuletzt bei Richard Hohenemser lesen lassen.

Neben dieser ausführlichen Opernthematik kam die Kirchenmusik keineswegs zu kurz. Prof. Dr. Joachim Kremer von der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart stellte mit „Réunion des beautés sévères […] avec l’expression dramatique?“ Cherubinis Messen „zwischen Tradition und Aktualität“ vor. Fesselnd gelang es ihm deutlich zu machen, wie Cherubini – möglicherweise vor dem Hintergrund von Haydns Messen – Dramaturgie, Zyklusgedanken innerhalb eines Ordinariums realisierte. Dr. Berthold Over von der Johannes Gutenberg Universität in Mainz konstatierte anhand einzelner Fallbeispiele die Rezeption des Mozart’schen Requiems in den Requiem-Vertonungen von Cherubini. Christian Märkl M. A. von der Hochschule für Musik Franz Liszt gab Einblick in Cherubinis Jugendmessen, die der italienischen zeitüblichen Regel entsprechend aus den vertonten Ordinarienteilen Kyrie und Gloria bestehen. Märkls Edition der zweiten der drei Jugendmesse, der Florentiner Messe C-Dur von 1774, legt eine bedeutende Grundlage. Mit dieser Messe führte Märkl vor Augen – und in der abendlichen Aufführung auch vor Ohren – mit welch handwerklichem Können und künstlerischem Vermögen der junge Cherubini der zeitgenössischen Erwartungshaltung gerecht wurde und zugleich über den kompositorischen Ehrgeiz hinaus bereits ganz individuelle Töne und empfindsame, ausdrucksstarke Interpretationen der liturgischen Textvorgaben anschlug. Dr. Marko Motnik von der Universität in Wien ging einer für Cherubinis Biographie zentralen Angelegenheit auf den Grund: seiner enttäuschten Hoffnung einer Anstellung am Esterházy’schen Hof: „,nouce sommer donc l’un à l’autre‘: Cherubinis Kirchenkompositionen für Nikolaus II. Esterházy und die gescheiterten Verhandlungen um die Nachfolge Haydns“.

Nach dem Opern- und Kirchenkomponisten Cherubini ging es nun exemplarisch um dessen Kammermusik: Dott. Fabio Morabito von der Università degli Studi in Pavia stellte in sehr anschaulicher Weise das Streichquartettschaffen Cherubinis vor. Er verwies auf die zeitliche Zäsur zwischen Früh- und Spätwerk im Bereich dieser Gattung, mit der Cherubini keineswegs allein steht, arbeitete prägnant stilistische Merkmale anhand des unvollendeten Quatuor second und den späteren Streichquartetten heraus.

Die umrahmenden Konzerte waren eng mit den Inhalten der wissenschaftlichen Vorträge verknüpft, sie zeigten den Opern- und Kirchen- sowie den Kammerkomponisten Cherubini: Am Donnerstagabend standen Opernarien auf dem Programm, interpretiert von Studentinnen und Studenten der Gesangsabteilung (Hochschule für Musik Franz Liszt), die einen weiten Bogen spannten: Mit Lo sposo di tre e marito di nessuna, einem italienischen dramma giocoso, bis hin zu Medée, seiner berühmten tragischen Oper, die das am Vormittag diskutierte „schreckliche Erhabene“ zum Ausdruck brachte. Am Freitagabend wurde in der Herz-Jesu-Kirche eine besondere Wiederentdeckung zur Aufführung gebracht: Kammerchor und Studierende der Hochschule für Musik Franz Liszt interpretierten unter der Leitung von Tobias Löbner Cherubinis Jugendmesse C-Dur von 1774. Das Konzert zum Abschluss der Tagung am Samstag widmete sich dem von Morabito thematisierten Streichquartettschaffen: Das Armida Quartett interpretierte den Quartettsatz G-Dur des genannten unvollendeten Quatuor second, das dritte Streichquartett d-Moll von Luigi Cherubini und – sicher keineswegs nur als Referenz an Robert Schumann, der in seiner Zeitschrift auf Cherubini als Streichquartettkomponisten anerkennend hingewiesen hatte – von Schumann das Quartett a-Moll op. 41/1. Deutlich wurde dem Zuhörer in dieser eindrucksvollen Interpretation die Nähe beider Komponisten.

Nicht zu übersehen war die kleine, aber sehr feine Ausstellung, die dem Festsaal gegenüber aufgebaut war. Sie verschaffte Einblicke in die editorische Praxis des Wiederfindens, Wiederentdeckens auch mit Hilfe modernster Röntgentechniken, wesentliche Fragen, die auch beim Roundtable zur Edition erörtert wurden, und vermittelte nicht zuletzt auch einen fundierten Überblick über die Cherubini-Quellen, die sich im Landesmusikarchiv Thüringen befinden. Gespannt sein darf man auf den Tagungsbericht.